Zum Tag der Muttersprache: Wieviel Uhr es isch!
Wieviel Uhr es isch?
Thomas Heitlinger © 2021
Vor allem im süddeutschen Raum hat sich für die Zeitangabe eine eigentümliche Formulierung ergeben. Fragt man nach der Zeit, bekommt man zum Beispiel „dreiviertel zwölf“ oder „viertel eins“ zur Antwort. Oftmals ist es für die Unkundigen schwierig, diesen Zeitbegriff einzuordnen.
Zum Tag der Muttersprache möchte ich diese Formulierung zum Anlass nehmen, darauf hinzuweisen, dass es für unsere Dialekte und speziell hier in Nordbaden tatsächlich nicht mehr fünf vor zwölf sondern tatsächlich bereits fünf Minute vor dreiviertel vier ist.
Wohlwollend mögen die Politiker und gesellschaftlich Verantwortlichen dazu nicken, auch ihnen ist der Zeitbegriff unverständlich, wie offenbar das ganze Thema an der sprichwörtlichen Unverständlichkeit der Dinge leidet.
Vielleicht liegt es daran, dass die Idiome der heimischen Bevölkerung als kultureller Jux einstuft werden. Als niedliches Beiwerk, als folkloristische Abart, etwas, das durch punktuelle Erwähnung zu den jeweiligen Jahrestagen am Leben erhalten werden muss, am besten aber gleich verschwiegen wird.
Gleichwohl wäre es falsch, eine bewusste Absicht zu unterstellen.
Es liegt schlicht und einfach an der Ignoranz und Borniertheit der Verantwortlichen in Baden-Württemberg, dass sich die Mundartkultur nicht im ganzen Land zu etablierten bzw. zu erhalten vermag. Zwar engagiert sich der Ministerpräsident Winfried Kretschmann in vorbildlicher, persönlicher Art und Weise für den Erhalt der Dialekte. Nicht zuletzt mit der begonnenen Tagung in Stuttgart im Dezember 2018.
Es reicht aber nicht aus, wenn der Kopf und die Füße einen Plan beschließen und die Körperorgane dazwischen – und obwohl üppig ausgestattet – den Dienst verweigern.
So beschreibt man dort dazwischen munter die Defizite, freut sich gar über das beschriebene Ergebnis und wundert sich im selben Moment, dass man den Weg aufgrund akuten Kreislaufversagens der Organe nicht gefunden, mithin jegliche Möglichkeit für ein Anknüpfen an bestehende Strukturen verloren hat bzw. verliert. Es ist diese geistige Adipositas und Handlungsunfähigkeit, die der Dialektkultur in Baden-Württemberg den Todesstoß versetzt. Und nicht, wie immer gerne behauptet, unvermeidbare Umstände, denen man sich bereits aufgrund des sicher eintreffenden Ereignisses erst gar nicht zu stellen braucht.
Was für ein Land, in dem wir es uns erlauben, dass die Körperteile miteinander fremdeln!
Es muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass die Sprache der Menschen ein Stück Identität darstellt. Ein Bezugspunkt, an dem sie sich verorten können. Wer sich dieser Herausforderung nicht angemessen stellt – und alle unsere Nachbarn tun dies wesentlich besser als wir hier in Baden-Württemberg – darf auch darauf verzichten, zu bestimmten Zeiten und Jahrestagen Krokodilstränen zu weinen.
So bleibt der bittere Hinweis: Für die Dialekte in Baden-Württemberg ist es bereits fünf Minuten vor dreiviertel Vier. Und wie es in dem gleichnamigen Text heißt:
Ich glaub, Ihr Uhr geht falsch. Der Bus isch fort!
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