Ich glaab’s widder mol net
Wenn was in de Zeitung schteht, wo mer net gfallt, denke z’erscht
emol drübber nooch, bevor eme uffreg. Oft lohnt sich dann die
Uffregung net, abber wasse do am letschte Donnerschdag habb
lese müsse, hat mer doch glatt mei Schproch verschlage:
“Rentenerhöhung zum Juli fällt deutlich aus”
Um ganze 4,39% ! Aigentlich isch des e Zumutung. Wenn mei Fraa
vom Eikaafe kommt, beklagt se sich jedes mol übber gschtiegene
Lebensmittelpreise, die oftmols viel höher sin als die läppische
4,39% Renteerhöhung. Do sin 100% Preiserhöhung kai Seltehait!
Uff de annere Seit droht die Lokführergwerkschaft mit Schtreik,
weil denne e monatliche Lohnerhöhung von übber 600 € odder
sogar e Einmalzahlung von übber 2.000 € noch zu wenig isch.
Wie sagt de Volksmund so treffend?
Mit de Rentner kann mer’s halt mache, weil die kai Lobby hen !
Die Arbaider sin an ihre Misere selber schuld, weil se immer wenicher organisierd sen. Des war schun e schleichende Entwigglung. Mein Vadder hod mer in de Sechzicher schun gsagd: „Es isch bedauerlich, awwer wenn die Arbaider
mid de Grawadd dorchs Dor gehe, sen se uf oi mol koi Arbaider meh.“
Dezu, aa wenns koin Dialekt isch, en Beittag vum Kurt Tucholski vun 1926:
Der schlimmste Feind
Für Ernst Toller
Der schlimmste Feind, den der Arbeiter hat,
das sind nicht die Soldaten;
es ist auch nicht der Rat der Stadt,
nicht Bergherrn, nicht Prälaten.
Sein schlimmster Feind steht schlau und klein
in seinen eignen Reihn.
Wer etwas diskutieren kann,
wer einmal Marx gelesen,
der hält sich schon für einen Mann
und für ein höheres Wesen.
Der ragt um einen Daumen klein
aus seinen eignen Reihn.
Der weiß nichts mehr von Klassenkampf
und nichts von Revolutionen;
der hat vor Streiken allen Dampf
und Furcht vor blauen Bohnen.
Der will nur in den Reichstag hinein
aus seinen eignen Reihn.
Klopft dem noch ein Regierungsrat
auf die Schulter: »Na, mein Lieber … «,
dann vergißt er das ganze Proletariat –
das ist das schlimmste Kaliber.
Kein Gutsbesitzer ist so gemein
wie der aus den eignen Reihn.
Paßt Obacht!
Da steht euer Feind,
der euch hundertmal verraten!
Den Bonzen loben gern vereint
Nationale und Demokraten.
Freiheit? Erlösung? Gute Nacht.
Ihr seid um die Frucht eures Leidens gebracht.
Das macht: Ihr konntet euch nicht befrein
von dem Feind aus den eignen Reihn.
Theobald Tiger (Kurt Tucholsky)
Die Weltbühne, 28.12.1926, Nr. 52, S. 998,
wieder in: Mona Lisa.